Postmigrantische Stadt
Das Leben in Basel ist geprägt durch die Spuren und Erfahrungen mehrerer Generationen von Zuwanderung. Wie in anderen urbanen Räumen werden Grundzüge der postmigrantischen Gesellschaft hier deutlich greifbar: Migration ist sowohl selbstverständlicher Bestandteil des städtischen Lebens und äussert sich unspektakulär in vielfältigen Formen des Zusammenlebens. Zugleich wird Migration unablässig als Problem thematisiert, in der Politik ebenso wie am Arbeitsplatz, in der Schule sowie im Quartier. Und die postmigrantische Stadt fordert gerade junge Menschen auf, sich mit vielfältigen Identitäten auseinanderzusetzen und sich durch Interaktions- und Aushandlungsprozesse ihre je eigenen persönlichen und sozialen Identitäten anzueignen.
Zudem ist die postmigrantische Stadt nicht nur durch Vielfalt und Differenz geprägt, sondern auch durch sozioökonomische Ungleichheiten. Deutlich zeigt sich dies in Daten zur Vermögens- und Einkommensverteilung, aber auch zu schulischen Laufbahnen oder mit Blick auf den Bezug von Sozialleistungen. Die sozialen Ungleichheiten weisen markante sozialräumliche Ausprägungen auf: Die Wohnviertel unterscheiden sich wesentlich in Bezug auf die einschlägigen Indikatoren (von der Sozialhilfequote über die Wohn- und Grünflächen bis zur Gymnasialquote). Entsprechend sollte die Stadt Basel nicht als homogener Raum betrachtet werden, sondern als ein Neben- und Miteinander unterschiedlicher Lebens- und Arbeitswelten.
Quartier und Schule
Das Quartier und die Schule stellen für Kinder und Jugendliche die ersten Sozialräume dar, die sie mit zunehmender Autonomie ausserhalb der Familie (oder des Haushalts, des Heims, etc.) erkunden. Es handelt sich für sie um Zwischen- und Übergangsräume, in denen sie Identitäten inszenieren und ausprobieren sowie Erfahrungen mit individueller und kollektiver Raumaneignung sammeln.
Quartier und Schule stehen zudem aus Sicht der Stadtforschung und Stadtentwicklung in einer engen Wechselbeziehung. Dies gilt in Basel insbesondere für die Primarschulen, bei denen es sich um Quartierschulen im eigentlichen Sinne des Wortes handelt. Die allermeisten Kinder besuchen eine Primarschule im Quartier (es sei denn, sie gehen auf eine Privatschule). Zudem sind die Schulhäuser (inkl. umliegende Schulhöfe, Spielplätze etc.) meistens wichtige Quartiertreffpunkte, wo Kinder und Jugendliche auch Freizeit verbringen sowie Eltern und Familien zu Veranstaltungen kommen etc. Die Verbindungen zwischen Schule und Quartier lockern sich zwar mit fortschreitender Schullaufbahn: die Brückenangebote (mit denen sich kein Quartier brüstet, sie werden eher versteckt gehalten), die Sekundar- und Berufsschulen sowie die Gymnasien weisen keinen direkten Quartierbezug auf. Aber es ist davon auszugehen, dass Quartieridentitäten die meisten Schüler:innen auch nach Abschluss der Primarschule prägen und begleiten.
Die Schule ist eine Instanz der sozialen Reproduktion, die Ordnung ins postmigrantische Mosaik des Quartiers bringt. Sie produziert sowohl gute als auch schlechte Schüler:innen; sie diagnostiziert Förderbedarfe, ringt mit Fremdsprachigkeit und problematisiert Integrationsdefizite; sie leitet Selektionsprozesse ein und bereitet auf unterschiedliche Erwerbslaufbahnen vor; sie bringt Eltern dazu umzuziehen oder ihre Kinder in eine Privatschule zu schicken, kurzum: sie (re)produziert Ungleichheiten und bringt Problemgruppen oder «gefährdete» Jugendliche hervor.
Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass die Schule im Quartier für die Jugendlichen stets präsent ist – und umgekehrt. Allein auf Grund des faktischen Gewichts der Schule im Tagesablauf unter der Woche sowie ihrer Bedeutung für die Lebensentwürfe der Kinder und Jugendlichen nehmen diese auch in der Freizeit, in Alltagsinteraktionen etc. immer wieder Bezug auf die Schule und sind sich der Tatsache bewusst, dass ihre Identität und ihr gesellschaftliches Schicksal wesentlich durch Schulbesuch und Schulerfolg geprägt sind. Umgekehrt schlagen sich Eigenschaften des Quartiers (Sozialstruktur, räumliche Struktur, kulturelle Vielfalt, Arealentwicklungen etc.) unweigerlich im Schulalltag nieder - vom Schulweg über die Pausendynamiken bis zur Sprachenvielfalt und den Förderangeboten (inkl. Zusatzmitteln, die Schulen in benachbarten Quartieren erhalten: Basler Sozialindex) und hinterlassen Spuren in der Schulstatistik.
Unter bestimmten Bedingungen kann das Aufwachsen zum Aufwachen werden: Dann nämlich, wenn Jugendliche sich gesellschaftlicher Strukturen oder politischer Programmatiken bewusstwerden, die sie benachteiligen und ihre Möglichkeiten einschränken. Es ist diesbezüglich davon auszugehen, dass der organisierte politische Protest nur eine Form des Widerstands ist (und nicht unbedingt die am meisten verbreitete Form), die aufgeweckte Jugendliche ergreifen können. Mindestens so populär dürften ironische und parodistische Praktiken sein oder die ostentative Hinwendung zu von der (dominanten) Schulkultur abgewandten Lebensentwürfen (von eigensinniger Aneignung anderer Religionen und Kulturen bis zur Orientierung auf Sport- oder Social Media Laufbahnen). Unsere Forschung legt das Augenmerk auf Eigensinnigkeit und Agency junger Menschen und betrachtet sie nie ausschliesslich als Opfer gesellschaftlicher Verhältnisse.
Ethnografie und Statistik
Unser Projekt beruht auf der Verbindung zweier Forschungszugänge:
Die ethnografische Perspektive exploriert die Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen im Quartier und ggf. in der Stadt (Spiel- und Sportplätze, Orte zum Chillen und Rumhängen, Jugendtreffs, Schulareale, erste Ausgangslokale, verborgene und verbotene Orte, etc.). Der Fokus liegt auf Praktiken der Raumaneignung und Identitätsbildung. Die Blickrichtung geht vom Quartier in Richtung Schule: Wann, wie und warum kommt ausserhalb der Schulzeit die Schule wieder ins Spiel? Inwiefern ist die Schule im Quartier präsent?
Die statistische Perspektive legt den Fokus auf gesellschaftliche Strukturen der Ungleichheit und Differenz. Die Blickrichtung geht von der Schule in Richtung Quartier. Ausgangspunkt sind Bildungsstatistiken (insbesondere die Schulhausstatistik). Diese werden in Verbindung gesetzt mit weiteren Statistiken (insbesondere: Integrationsindikatoren und Statistik der Wohnviertel). Auf diese Weise können Erkenntnisse gewonnen werden zur Frage, inwiefern das Quartier in der Schule präsent ist.
Keine der beiden Forschungsperspektiven erhält ein erkenntnistheoretisches Primat. Beide sollen sich bereichern und gegenseitig hinterfragen und überprüfen.
Patchwork Ethnography und Citizen Science
Wir verfolgen einen kritischen, realistischen und pragmatischen Ansatz, der die kanonischen Oppositionen der traditionellen andro- und eurozentrischen Forschungspraxis hinterfragt.
Patchwork Ethnography: Die Forschung ist nicht strikt getrennt vom privaten Alltag, das Feld liegt direkt vor der Haustüre. Ein längerer Forschungsaufenthalt ist weder möglich noch erforderlich, um das postmigrantische Aufwachsen in Basel zu untersuchen. Wir 3 wohnen in der Stadt und haben Kinder, die hier aufwachsen. Wir setzen bei unseren Alltagsbeobachtungen an und nutzen diese als Anhaltspunkte für die Forschung. Wir laden Mitarbeiter:innen und Studierenden ein, dasselbe zu tun.
Citizen Science: Unsere Forschung findet nicht im Elfenbeinturm statt, sondern in Kooperation mit unterschiedlichen Akteur:innen. Wir nehmen Kinder und Jugendliche sowie ihre Familien und Bezugspersonen als Expert:innen ihrer Alltags- und/oder Arbeitswelt ernst. Wir suchen die Zusammenarbeit insbesondere mit Schlüsselpersonen aus Quartier- und Freizeitorganisationen; Lehrpersonen aus der Primarschule (inkl. Kindergarten, Kitas, Spielgruppen etc.); Mitarbeitende des Statistischen Amtes und städtischer Verwaltungsabteilungen. Wir spielen Ergebnisse unserer Forschung zurück zum Beispiel durch Veranstaltungen im Quartier, Workshops in der Schule, Interviews in Zeitungen oder Beiträge auf Online-Plattformen, Veröffentlichungen für ein breites Publikum etc.